Stefan Woltring im aktuellen Interview mit der OT-Redaktion "Füße gehören in die Hände von Fachleuten"

Autor: Ralf Sieler | 21.06.2023

Unbenannt

Füße gehören in die Hände von Fachleuten

2002 warb eine große Elektronikhandelskette mit dem Slogan „Geiz ist geil“. Auch 2023 müssen viele Privatpersonen aufgrund gestiegener Kosten und Inflation wieder genauer hinschauen beim Konsum. Was für Privathaushalte zutrifft, gilt auch für das deutsche Gesundheitssystem. Die Finanzlage ist angespannt, nach Einsparpotenzialen wird gesucht. Eine Möglichkeit ist die Online-Einlagenversorgung. Durch Übertragung von Versorgungsleistungen auf Patient:innen soll Geld gespart werden – doch zu welchen Kosten? Spitzensportler:innen vertrauen Orthopädieschuhmacher-Meister Stefan Woltring ihre Füße an. Online-Einlagenversorgung lehnt der Experte ab, da die Gesundheit der Patient:innen dadurch gefährdet ist. Medizinische Fachgesellschaften und ihre Expert:innen sind sich einig: Die Füße gehören in die Hände von Fachleuten. Das bestätigt Orthopädieschuhtechnik-Meister Stefan Woltring im Interview mit der OT-Redaktion.

OT: Herr Woltring, Sie betreuen Sportler:innen aus unterschiedlichen Sportarten und auf unterschiedlichen Leistungsniveaus. Unter anderem gehören auch Fußballer aus der höchsten deutschen Spielklasse dazu. Wie groß ist Ihrer Erfahrung nach der Anteil in einer Bundesligamannschaft, die eine Einlagenversorgung sowohl im Sport als auch im Alltag benötigen?

      Stefan Woltring: Das Tragen von Einlagen in einer Fußballbundesligamannschaft wird sehr unterschiedlich gewünscht und gehandhabt. Die Gründe für das Tragen spielen dabei eine große Rolle. In den Teams, die mein Unternehmen betreut, liegt der Anteil der Spieler, die regelmäßig Einlagen im Fußballschuh tragen, bei etwa fünfundzwanzig Prozent. Im Verlaufe einer Saison kommen zehn bis zwanzig Prozent der Spieler dazu, die aufgrund einer akuten Verletzung temporär mit Einlagen oder mit Umbaumaßnahmen an den Fußballschuhen Ausstattungen erhalten. Ein Teil der versorgten Sportler nutzt die Zeit außerhalb des Trainings- und Spielbetriebes, um z. B. durch sensomotorische Einlagen Regenerationseffekte der Muskulatur zu unterstützen. Andere verwenden das Betten, die Korrektur und den Komfort von Einlagen zur Prävention von Überlastungen sowie zur Rehabilitation bei bestehenden Verletzungen. Alle Maßnahmen werden interdisziplinär mit dem jeweiligen medizinischen Team der Mannschaften abgestimmt.

 

OT: Profi-Sportler:innen kümmern sich aufgrund ihres Berufs naturgemäß mehr um die Leistungsfähigkeit ihres Körpers, als es vielleicht Freizeitsportler:innen tun. Mit welchen Erfahrungen und welcher fachlichen Kompetenz sind die Sportler:innen ausgestattet, wenn Sie auf sie treffen?

            Woltring: Große sportliche Talente werden nicht selten in früher Jugend entdeckt. Durch Sportinternate, Kader oder Stützpunkte entstehen andere Rahmenbedingungen für Jugendliche gegenüber denen, die nicht in einem sportlichen Umfeld groß werden. Sie haben sich als junge Erwachsene bereits lange mit Ernährung, Bewegung und den Trainingsmethoden ihrer Kernsportart auseinandergesetzt. Je nach Vorerfahrung und Kommunikation mit dem Umfeld steht und fällt die Aufgeschlossenheit gegenüber Hilfen von außen und damit die Bereitschaft, beispielsweise Einlagen als Unterstützung anzunehmen. Einige Profisportler winken ab, während andere begeistert sind. Eine fachliche Kompetenz und die damit verbundene differenzierte Betrachtung und Bewertung dieser Maßnahmen erwächst bei den Profisportler dabei in der Regel nicht.

 

OT: Würden Sie den Sportler:innen zutrauen, die Qualität und den Nutzen von Einlagen beurteilen zu können?

           Woltring: Die Qualität von Einlagen können Sportler:innen und Sportler ebenso viel oder wenig bewerten, wie andere Patienten das können. Im Wesentlichen beurteilen sie den Nutzen der Produkte danach, ob sie geholfen haben, beispielsweise Schmerzen oder Überlastungsschäden zu beheben, oder die Spielfähigkeit im Ballsport oder das Laufen in der Leichtathletik zu unterstützen. Das einfache Handling im Alltag sowie das Komfortgefühl werden sicher ebenfalls als Maßstab angelegt. Leistungsoptimierung und Verletzungsprophylaxe sind Kriterien, die eine Erklärung der Wirksamkeit von Einlagen voraussetzen. Hier schließt sich der Kreis zum Fachexperten, der die Erwartungen und die Wirksamkeiten von Einlagen darstellt.

OT: An welchem Punkt sind aus Ihrer Sicht deutlich Stopp-Schilder aufzustellen, wenn es um das Thema Einlagen geht?

           Woltring: Stopp eins: Beim Thema Einlagen gibt es Bestrebungen, die Fachkompetenz der Experten im Thema Fuß zu untergraben. Über Jahrzehnte sind Erfahrungen gewachsen, die vielfältige Produktideen hervorbrachten. Die Wichtigkeit des Organes Fuß als Fundament des Stehens und des Gehens für den Menschen ist deutlich stärker in den Fokus der medizinischen Versorgung gerückt. Daher stopp, wenn es darum geht, die richtigen Maßnahmen für die Füße oder Maßnahmen zur Versorgung der Menschen über die Füße Nichtfachleuten und Laien zu überlassen.
Stopp zwei: Einlagen helfen meistens so gut wie das Gesamtpaket drumherum. Passgenauigkeit, Individualität, Anamnese, Palpation, Gesamtbetrachtung, alles das sind Faktoren um das eigentliche Handwerksprodukt herum. Stopp, wenn diese Faktoren nicht mehr als Leistung der Fachkompetenz für Hersteller von Einlagen anerkannt werden!
Aber es gibt auch zwei weitere – fachliche – Stopp-Schilder. Stopp drei: Einlagen sind kein Allheilmittel. Erst wenn klar ist, dass eine Einflussnahme über die Füße gewinnbringend für die Patienten einsetzbar ist, sollte über die Verwendung von Einlagen und deren Nutzen gesprochen werden.
Stopp vier: Einlagen müssen in ihrer Wirkweise erklärbar sein. Irgendwas und irgendwo in weich oder fest unter den Füßen ist noch keine Hilfe. Ein strategisches Ziel steht hinter jeder Einlagenversorgung, unabhängig davon, ob die Vorgehensweise primär biomechanisch oder primär sensomotorisch ist.

 

OT: Es gibt Angebote für Privatzahlende im Netz, die ein schmerzfreies Leben oder eine bessere sportliche Performance versprechen. Wie schätzen Sie diese Angebote grundsätzlich ein?

           Woltring: Zunächst ist ein wenig Vorsicht geboten. Schmerzfreiheit zu versprechen, ohne die möglichen Gründe für Schmerzen zu differenzieren oder den Schweregrad einer Erkrankung zu kennen, ist nicht seriös. Angebote zur Unterstützung eines gesunden Lebens oder dem Erreichen verbesserter sportlicher Leistungen gibt es auf allen Ebenen, und das bereits, seit es einen Markt für diese Themen gibt. Die Aussicht auf eine bessere sportliche Performance wünschen sich viele Menschen. Das zu erreichen erfordert, die Rahmenbedingungen des/der jeweils Einzelnen zu kennen und die sportlichen Ziele zu definieren. Einlagen, insbesondere sensomotorische Einlagen, können hier einen Baustein liefern. Dieses Angebot online anzubieten, ist legitim. Jedoch unterliegt besonders die sportliche Aktivität sehr komplexen Betrachtungen, die als Voraussetzung für eine erfolgreiche Verwendung von Einlagen zugrunde gelegt werden müssen. Dazu braucht es Fachexpertise sowie die Überprüfung von Passform und Funktion von Einlagen am Menschen. Entscheidend für die Qualität eines Angebotes sind hier nicht allein das Material und das Design. Die Compliance der Sportlerinnen und Sportler setzt voraus, dass auch ihre Individualität berücksichtigt wird. Online-Angebote werden das nur schwerlich gewährleisten.

 

OT: Genauer nachgefragt: Was halten Sie davon, dass fachliche Kompetenzen auf die Kund:innen übertragen werden, wie zum Beispiel das Vermessen der Füße?

          Woltring: Füße in Größe und Breite zu vermessen ist kein Hexenwerk. Allerdings sind die Voraussetzungen für die Bewertung der Relevanz bei Fußformveränderungen sehr weitreichend. Anatomische Kenntnisse sowie Erfahrungen und Wissen über die Physiologie des Menschen bilden die Basis der Betrachtung und Bewertung. Allein die Art des Vermessens von Füßen birgt bereits viele Spielräume, die interpretiert werden müssen. Im Sport findet diese Betrachtung gerne in den Schrittphasen nach Dr. Jaqueline Perry statt. Die Stand- und Schwungphasen zu bewerten ist oftmals sehr umfänglich. Die Interpretationen auf die jeweilige Person und die Sportart lassen es richtig spannend werden. Die Wahrscheinlichkeit von Fehlern und Fehlprodukten steigt, wenn die fachliche Kompetenz nicht gegeben ist.

 

OT: Die Firmen, die diese Einlagen anbieten, bestechen durch eine hohe Präsenz in den Sozialen Medien. Viele – gerade jüngere – Menschen dürften auf die Angebote aufmerksam gemacht werden und sich in ihrem Konsumverhalten auch abgeholt fühlen. Warum ist der Gang zu dem Fachmann bzw. der Fachfrau dennoch besser?

         Woltring: In den Sozialen Medien zu glänzen ist in der heutigen Zeit nicht schwierig. Dass auf diesen Wegen viele Menschen zu erreichen sind, hat uns nicht zuletzt der blühende Online-Handel in der Pandemiezeit gelehrt. Insbesondere jüngere Menschen sind dem E‑Kommerz sehr aufgeschlossen. Es wäre falsch, das als Tatsache zu ignorieren, nur um altbewährte Vertriebswege zu erhalten. Es werden sich in der Zukunft neue und andere Märkte daraus entwickeln, die das Feld der Angebote erweitern können. Die Fachfrau oder der Fachmann zu sein in einem Gesundheitshandwerk der Orthopädie bedeutet, Meisterin oder Meister zu sein in einem Berufsstand, dessen umfängliches Fachwissen und dessen Fertigkeiten darauf ausgerichtet sind, die Gesundheit der Menschen zu erhalten und dazu beizutragen, diese wieder herzustellen. Das kann kein Angebot über die Sozialen Medien oder ein Versandhandel gewährleisten! In allen Bereichen des Konsums ist das Verhalten der Menschen darauf ausgerichtet, sich zu informieren und auf Basis dieser Informationen das Kaufverhalten auszurichten. Warum soll dieses Verhalten beim Thema Gesundheit ausgeschaltet werden? Gerade in der Fachkompetenz des Orthopädie-Handwerks liegt die Stärke, der möglichen Beliebigkeit eines Online-Versprechens entgegenzutreten.

 

OT: Was müssen Orthopädieschuhtechnik-Betriebe unternehmen, um ihre eigene Sichtbarkeit zu erhöhen?

       Woltring: Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Eine alte Weisheit, die jedoch sehr zutreffend sein kann. Die Sichtbarkeit eines Orthopädieschuhtechnik-Unternehmens zu erhöhen, bedeutet nicht, auf jeden Zeitgeist aufzuspringen. Grundsätzlich sollte sich jedes Unternehmen die Frage nach dem eigenen Image stellen. Wo liegen die Schwerpunkte? Gibt es überhaupt Schwerpunkte? Welche Zielgruppen sollen erreicht werden? Bestimmt das Angebot des Unternehmens die Nachfrage? Ist der Unternehmer agierend oder reagierend? Wer in der Beantwortung dieser Fragen klar ist, nutzt die Mittel des Marketings und die Wege der zeitgemäßen Kommunikation, um seine Angebote zu platzieren. Weder der einzelne Betrieb noch die Branche der Orthopädie-Schuhtechnik wird darum herumkommen, dafür zu investieren. Ratsam ist dabei unbedingte professionelle Hilfe. Das Licht anmachen, um die Sonne zu sehen, hat noch niemandem genützt. „Auf sich aufmerksam zu machen“ ist ein Beruf für sich!

 

OT: Langfristig können falsche Versorgungen gesundheitsgefährdend sein, darauf haben schon einige Fachgesellschaften hingewiesen. Was erwarten Sie konkret für Folgen für die Nutzer:innen?

       Woltring: Bereits jetzt gibt es bei der Versorgung mit Einlagen diagnostische Randbereiche, die nur geringer Intervention bedürfen. Das Risiko von Gesundheitsschädigungen ist hier als relativ gering einzustufen. Was dabei jedoch als Randdiagnose zu betrachten ist und was als signifikant oder gravierend eingestuft werden muss, unterliegt ausschließlich der Bewertung der Medizin und seinen verschiedenen Fachbereichen. Die Nutzer falscher Einlagen und Versorgungen können gravierende Beschwerden erfahren. Zunächst einmal geht viel Behandlungszeit verloren. Die Patient setzen auf die bestmögliche Hilfe durch die Fachkraft ihres Vertrauens. Wird diese Hilfe nicht gewährleistet, besteht die Gefahr, dass Versorgungen getragen werden, die keine oder sogar eine kontraproduktive Wirkung entfalten. Akute Schmerzen lassen sich möglicherweise nicht lindern. Krankheitsbilder etablieren sich oder werden chronisch. Weitere Fachdisziplinen der Medizin werden zurate gezogen und jeder sucht an anderer Stelle. Vonseiten der klinischen Betrachtung bedeutet es, dass Strukturen sich ggf. degenerativ entwickeln und möglicherweise irreparabel verschleißen. Das Verharren in pathologischen Mustern kann Kompensationen und Dekompensationen auslösen, woraus im weiteren Verlauf auch indirekte Folgeschäden möglich sind.

 

OT: Bisher gibt es die Online-Einlagen nur für Selbstzahler, einzelne Leistungserbringer wie Krankenkassen schwebt eine Online-Versorgung auf Rezept vor. Was würde dies für die Branche bedeuten?

        Woltring: Die Idee einer Online-Versorgung geistert gerade durch viele Köpfe. Orthopädie-Handwerke und Krankenkassen, aber auch Zulieferer der Industrie wägen die Chancen und Risiken miteinander ab. Niemand will etwas verpassen. Jedoch will auch niemand das Gute und Bewährte im bestehenden System untergraben. Die großen Stärken der Orthopädie-Handwerke liegen in der hohen Fachkompetenz und der Arbeit am Menschen. Eine Anamnese gestaltet sich interaktiv zwischen den Patienten und dem Untersucher. Die Untersuchungen finden am Körper statt. Die Beschreibungen von Krankheiten und Beschwerden sowie deren Verläufe durch die Patienten sind bilaterale Dialoge. Dienstleistungen des Handwerkes, wie Gang- und Bewegungsanalysen, bedürfen der fachlichen Interpretation. Von diesen Faktoren ist abhängig, ob der Wirkmechanismus einer beabsichtigten Einlagenversorgung primär biomechanisch oder sensomotorisch ist. Die Patienten vergeben einen Vertrauensauftrag an den Orthopädie-Handwerker, bei dem die Gesundheit der Patienten im Mittelpunkt steht. Krankenkassen haben keinen Grund und offensichtlich bislang keine Grundlage, die medizinischen Hilfsmittel durch Online-Versorgungen zu verbilligen. Der Auftrag der Krankenkassen besteht vielmehr darin, die Gesundheit der Versicherten im Maße des Notwendigen zu gewähren. Statt dafür auf die massive Herabsetzung der Qualität zugunsten eines vermeintlich günstigeren Preises zu setzen, ist es überfällig, lange etablierte Wirkverfahren wie beispielsweise sensomotorische Einlagen als Hilfsmittel anzuerkennen. Gesicherte Kenntnisse auf der Basis von Erfahrungen und Wissenschaft bieten bessere Möglichkeiten, Kosten zu sparen und dem Stand des Wissens von heute gerecht zu werden. Das aktuelle Kompendium der DGIHV zum Thema Fuß und Schuh bringt diese Erwartung gemeinsam mit den großen Fachgesellschaften der Medizin klar zum Ausdruck. Das Orthopädie-Handwerk ist bärenstark, solange es auf seine Stärken setzt!

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